Jeder Morgen beginnt mit diesem Ritual. Erst einige Kilometer mit dem Auto zur nächsten S-Bahn-Haltestelle und von dort weiter zur Arbeit. Inzwischen habe ich es richtig liebgewonnen, knapp eine Stunde unterwegs zu sein. Sich anonym in der Masse bewegen zu können, ohne allein zu sein. Es bleibt genug Zeit, Gedanken nachzuhängen, die aus dem übrigen Alltag verbannt sind. Zum Teil, weil sie zu banal, zum Teil, weil sie zu abstrus sind. Oder wann denkt man sonst darüber nach, weshalb man sich ausgerechnet moosgrüne Schuhe gekauft hat.

Neben mir sitzen drei Frauen und ich bin aufgrund der Lautstärke zum Zuhören verdammt: „Ja und dann hat er sie zum erstenmal mit nach Hause gebracht. Ich will ja nichts sagen, ein nettes Mädchen, grüne Strähnen halt, aber nett. Und einen Nasenring, gut, wem`s gefällt. Aber wirklich nett.“ Dieses „nett“ regt mich ziemlich auf und am liebsten würde ich rausplatzen: „Ja und dann saß sie zum erstenmal neben mir, mit Schminke übel zugerichtet und schlechtem Parfüm vor sich hindampfend –  aber nett.“ Während mir das durch den Kopf schießt, starre ich in die Frauenrunde. Es wird plötzlich still und drei rouge-frohe Gesichter glotzen mich erwartungsvoll an. Leicht errötend lächle ich nur freundlich in die Runde. Wieder mal gekniffen. Inzwischen setzen die drei ihre Unterhaltung fort und ich nehme mir vor, nur zuzuhören, ohne mir ein Urteil zu bilden. Dies scheint unmöglich, da ich immer den Begriff „Realsatire“ im Kopf habe. „Ja, bei unserem Andreas mache ich mir auch Sorgen, wenn die Christina bei ihm übernachtet. Nachher verbaut sich der Junge die ganze Zukunft. Der soll erst mal sein Abitur machen. Ob die sich überhaupt darüber Gedanken machen. Und die Gertrud hat mir erzählt, dass die Christina schon mit so vielen was gehabt hat. Die ist nicht die richtige für unseren Andreas. Aber man weiß nie, sagen kann man ja auch nichts.“ Der Unterhaltung der drei Frauen kann ich mich nicht entziehen. Ob sich meine Mutter auch einmal so über ihren Sohn unterhalten hat? „Der Freund von unserer Elke bleibt in letzter Zeit auch immer länger da, wir sehen ihn ja kaum, die sind immer gleich in ihrem Zimmer verschwunden. Ich würde den gerne mal näher kennenlernen. Neulich war´s dann schon nach zwölf und am nächsten Tag war Schule. Mein Mann ist dann zu denen ins Zimmer und meinte, es wäre wohl langsam Zeit ...“ „Ja, gerade in dem Alter sollte man schon noch ein wenig ein Auge darauf haben. Ich habe dann meinen Mann gefragt, ob was gewesen sei, aber die haben wohl nur rumgeknutscht. Allerdings war sie beinahe eine Woche mit uns sauer. Er hätte doch wenigstens anklopfen können; sie hätte ja schließlich auch ein Recht auf Privatsphäre. Aus Trotz geht sie jetzt immer zu ihm, denn er hätte keine so spießigen Eltern.“ Obwohl ich mich bei diesem Tratsch gut amüsiere, wäre es mir recht, wenn die drei endlich aussteigen würden. Aber den Gefallen tun sie mir nicht. Ganz im Gegenteil – wieder versucht mich eine in das Gespräch einzubeziehen, indem sie mich direkt anspricht: „Wissen Sie, wir sind gar nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken.“ Ich schaue in die Runde und antworte nur mit einem etwas langgezogenen: „Ahh-jaa“. Die Frauen wissen nicht, was sie damit anfangen sollen, warten kurz auf mehr, aber mehr kommt nicht. Sichtlich irritiert, schauen sie sich an, bis eine meint: „Ich glaube, der Mann hat andere Probleme.“ Wieder lächle ich freundlich in die Runde. Warum wurde ich überhaupt angesprochen. Sollte das „Wissen Sie, wir sind gar nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken“ der plumpe Versuch einer Rechtfertigung sein? Wenn die drei jedoch Ihr Verhalten als Eltern so für richtig halten, müssten sie sich nicht rechtfertigen. Oder wollte die Runde nur ausloten, ob ich das Gespräch verfolgt habe. Na gut, es könnte auch sein, dass die drei Frauen tatsächlich einen Außenstehenden in ihr Gespräch einbeziehen wollten. Einen „Mann, der andere Probleme hat“. Wieso andere Probleme? Ich sage mir, es ist nur eine Floskel und beginne die Frauen genau zu beobachten, mir gleichzeitig ihre Lebensgeschichten auszumalen. Die, die mir gegenübersitzt scheint die älteste zu sein, etwa Mitte sechzig. Mir fällt auf, dass sie bisher nichts gesagt hat, wodurch sie sich von den anderen unterscheidet. Bei ihr sieht alles sehr korrekt aus; die Kleidung, die Haltung, die Gestik, die Mimik. Vermutlich hat sie ihre Jugendjahre in einem Mädcheninternat verbracht, wurde für eine längst überholte Gesellschaft zurechtgebogen. Die Hände liegen nebeneinander auf ihrer schwarzen Handtasche. Sie sehen sehr gepflegt aus und dennoch passt etwas nicht ins Bild. Es ist der Nagellack. Der rotglänzende Nagellack. Die Hände bekommen etwas morbides. Es ist der Kontrast zwischen der von ersten Altersflecken gezeichneten Haut und dem makellos aufgetragenen Lack.