Jetzt sitzen wir schon beinahe eine Viertelstunde hier und haben immer noch nichts zu trinken. Wir konnten noch nicht bestellen, weil es in dem ganzen Laden wohl nur eine Bedienung gibt und die hat so viel zu tun, dass sie noch nicht bis zu unserem Tisch vorgedrungen ist. Ich habe sie noch nicht einmal gesehen.
Etwas genervt, weil ich nicht an einem Getränk nippen kann, sacke ich in meinem Kunststoff-Korbsessel zusammen. Mit meinen Fingerspitzen fahre ich über die umwickelte Armlehne. Ein angenehmes Gefühl, die leicht erhaben und tiefer liegenden Stellen zu spüren. Mit solchen Spielchen kann ich mich ablenken. Diese Korbsessel passen mit ihrem vergilbten Weiß richtig gut zu dem Namen „Bistro“. Die Kneipe ist eine Anhäufung von Geschmacklosigkeit, von den Getränken einmal abgesehen. Und wir mitten drin. Weshalb sind wir ausgerechnet hierher gegangen? Wahrscheinlich ist es nicht die Kneipe an sich, die geschmacklos ist, sondern meine miese Stimmung lässt sie so erscheinen. „Zwei Pils, ein Cappuccino und ein Cola – das macht zusammen fünfzehnvierzig.“ Das kann nicht sein. Wie kann ein solcher Worthaufen so unglaublich schön klingen? Plötzlich habe ich das Gefühl als hätte ich Gänsehaut. Ich schaue auf meine Arme. Ich habe Gänsehaut. Eine Stimme, die einem mit zwei Pils, einem Cappuccino und einer Cola für nur fünfzehnvierzig eine Gänsehaut verschafft, kann es nicht geben. Mit geschlossenen Augen lasse ich diesen Satz immer wieder in mir abspielen. Da ich im Moment genug von Enttäuschungen habe, wiederstehe ich der Versuchung mich umzudrehen und die Stimme anzuschauen. Diesen Augenblick möchte ich so vollendet im Gedächtnis behalten. Diese Stimme soll ihren Platz nicht mit einem mittelmäßigen Äußeren teilen. Doch die Realität, das weiß ich, wird mich spätestens dann einholen, wenn sie an unseren Tisch kommt, um die Bestellung aufzunehmen. Wenn es nicht zu albern wäre, würde ich am liebsten die Augen geschlossen lassen. Ein Tablet wird auf unserem Tisch abgestellt, und ich höre nur: „Hallo, was darf ich euch bringen.“ „Ein Pils.“„Noch eins.“ „Jahh.“ „Und für mich Bitter Lemmon, bitte.“„Mhm, Orpheus“, denke ich, „ich kann Dich voll und ganz verstehen“. Damals im Latein-Unterricht hat mich der gute alte Orpheus eher angenervt, weil mir die Übersetzung nicht gerade leicht fiel. Über den Inhalt habe ich mir kaum Gedanken gemacht. Doch hier und jetzt würde ich ihm sofort in die Unterwelt folgen und versuchen, ihn zu überholen. Mir kommt es vor, als hätte sie mich bei etwas ertappt. Kann sie auch noch Gedanken lesen. Dabei wollte ich sie nicht in die Unterwelt stecken, also hinkt mein Vergleich. Mir wird heiß, meine Wangen und Ohren glühen, ich mache die Augen auf. Sie möchte auch noch meine Bestellung aufnehmen und sieht mir daher genau in die Augen. Vergiss´es, schießt es mir durch den Kopf, die spielt in einer anderen Liga. Sie schaut mich immer noch fragend an und ich sollte endlich etwas sagen, um nicht für total bescheuert gehalten zu werden. „Kaffee.“„Okay.“ Sie geht und mir kommt noch ein leises „Bitte“ über die Lippen. Idiot, Idiot, Idiot! Hätte ich nicht irgendetwas witziges sagen können oder zumindest das „Bitte“ nicht so hinterhermurmeln. Und dann auch noch einen Kaffee bestellen, wie einfallslos. Auf einen Kaffee habe ich nicht einmal Lust, ich brauche etwas, um meinen Durst zu löschen und nicht etwas, um meine Ohren nachzuheizen. Die Runde schaut mich verwundert an und ich glotze zurück. Dann grinsen alle. „Habt ihr das eben gehört?“, frage ich „Ja,“ antwortet Andy „du hast in Trance einen Kaffee bestellt.“ Er grinst noch breiter: „Zu hören gab es da wohl nicht viel, aber zu sehen, oder? Die haben es doch in keinster Weise gerafft, was hier gerade abging. Was mich wundert, keiner am Tisch hat von ihrer Stimme Notiz genommen. Prüfend sehe ich mir die Runde nochmal an und merke, dass Patricia zu mir blickt, verständnisvoll schmunzelt und eine Augenbraue noch oben zieht, dann mehrmals nickt. Wenigsten Sie, freue ich mich, hat kapiert, worum es mir ging. Gerade wollte ich wieder in mich zusammensinken und meinen Kunststoffkorbsessel quälen, als ich sie aus den Augenwinkel mit einem vollen Tablett auf unseren Tisch zukommen sehe. Es ist schon merkwürdig, ich versuche, sie nicht anzustarren und habe doch das Gefühl als würde ich regelrecht glotzen. Was ist denn das schon wieder für ein Gaffer – man, der nervt vielleicht. Das sind wohl die Gedanken, die ihr bei meinem Anblick durch den Kopf gehen. Sie kann ja auch nicht wissen, was tatsächlich los ist. Gerade bin ich noch wie ein Verdurstender das ausgetrocknete Bett eines Flusses entlanggegangen und jetzt treibe ich in einem reißenden Strom. Obwohl völlig hilflos, genieße ich es. Endlich wieder Wasser. „Zwei Pils, ein Bitter Lemmon und einen Kaffee.“ Sie verteilt die Getränke und alle grinsen einmal mehr mich an. Natürlich tue ich so, als ob ich das gar nicht wahrnehme und schaue in meinen dampfenden Kaffee. „Pass’ bloß auf, dass Du Dich nicht wieder verbrennst“, höre ich Andy sagen. „Okay“, denke ich, Du hast es so gewollt: „Du weißt ja nicht einmal wie heißer, starker, schwarzer Kaffee schmeckt. Du rührst lieber jahrelang in einer lauwarmen, milchig-süßen Brühe. Und am Ende kippst Du den Rest in den Ausguß.“ Andy sieht mich etwas pikiert an, überlegt kurz ob er sich auf ein kleines Gefecht einlassen soll, entscheidet sich aber für einen versöhnenden Satz, weil er vermutet, das alles könnte in einem verbalen Gemetzel enden: „Naja, ich hatte oft genug Angst, dass es von so einer Brühe sogar dem Ausguss schlecht würde – so wie der immer gegurgelt hat.“ Alle lachen und ich kann endlich meinen heißen, starken, schwarzen Kaffee genießen. Später fährt Andy jeden von uns bis vor die Türe. Mich zuletzt. Als wir bei mir zuhause ankommen, meinte noch: „Eigentlich wollte ich Dich doch nur etwas aufmuntern, aber der Bedienung ist das wohl wesentlich besser gelungen. Und das, obwohl sie Dich nicht einmal wahrgenommen hat.“ Mit seinem letzten Wort schlage ich die Beifahrertüre zu. So kann er mir keine seiner Weisheiten mehr an den Kopf werfen. Jetzt liege ich im Bett, starre im Dunkeln an die Decke, oder vermute zumindest, dass da irgendwo im Schwarz die Decke ist. Langsam kommen die Bilder von vorhin zurück. Die Decke wird zu einer Art Leinwand. Darauf sehe ich sie wieder, wie sich zu mir rüber beugt und mich nach meiner Bestellung fragt. Endlich habe ich die Zeit, dieses Bild in Ruhe zu genießen. Wieder höre ich diese unglaublich schöne Stimme und ich starre auf ihren Mund. Erstaunlich, dass er sich nicht alleine durch seine Farbe oder den Lippenstift vom übrigen Gesicht abhebt. Nein, es ist auch die Form. Klare Linien, dennoch sinnlich und voll. Ich schaue ihr in die Augen und entdecke, dass etwas nicht zusammenpasst. Es sind die traurigen Augen. Ich vermisse den Glanz. Wenn es stimmt, dass die Augen ein Fenster zur Seele sind, dann ist bei ihr dieses Fenster fest verschlossen. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, weil ich gerade etwas durch den Wind bin. Im Halbschlaf beschließe ich, dass ich diese Frau kennenlernen muss. Ich muss einfach erfahren, welches Geheimnis hinter diesen traurigen Augen steckt. Heute weiß ich es.