Ein Stück vor mir, sehe ich Frau Kollmann, die in der selben Straße wie meine Eltern wohnt, an der Bushaltestelle stehen. Offensichtlich hat sie den Bus verpasst. Obwohl ich lieber alleine weiterfahren würde, halte ich an und mach’ die Beifahrertüre auf: „Hallo Frau Kollmann – kann ich Sie ein Stück mitnehmen?“
„Das ist aber nett, dass Du anhälst, ich muss zum Bahnhof und der Bus ist doch immer um achtunddreißig gefahren. Jetz seh’ ich gerade, dass der seit diesem Monat schon um zweiunddreißig fährt. Hast Du das gewusst?“„Nein, ich ...“ „Na, da hab’ ich aber Glück gehabt, dass Du gehalten hast. Aber ich hätte es mir ja auch denken können, dass die irgendwann den Fahrplan umstellen – ja zum Glück hast Du gehalten.“ Ich frage mich, warum sie es sich hätte denken können. Welcher Grund liegt vor, dass ausgerechnet diesen Monat die Abfahrtszeit geändert wird. Es ist weder das Halbjahr noch das Jahr um, nicht einmal ein Quartal ist zu Ende. „Weißt Du, ich hab’ gerade so ein Stress zuhause mit der Tante; da komm’ ich einfach nicht weg. Deshalb bin ich auch so knapp auf den Bus gegangen. Ja, das ist immer so anstrengend mit den alten Leuten.“ Soweit ich weiß, ist Frau Kollmann auch schon über siebzig. „Die Tante hört doch nicht mehr gut und dann erzählt sie ihrer Tochter immer seltsame Sachen. Dass ich Sie anschreien würde. Aber was soll ich denn machen, wenn sie sonst gar nichts hört. Außerdem, was heißt hier anschreien – ich hab’ ihr nur gesagt, sie soll nicht immer mit ihren Straßenschuhen überall so herumpoltern. Die hat so schöne, warme Hausschuhe mit weichen Sohlen. Da hört man nichts. Im Gegenteil, damit schleicht die richtig. Die ist doch tatsächlich mal bei uns vor der Wohnungstür gestanden. Glaubst Du, ich hätte die gehört. Ich meine, bei uns gibt´s ja nichts zu lauschen, aber allein, dass die auf unserer Etage herumschleicht. Also, wenn man da nicht aufpasst.“ Worauf oder weswegen „aufpassen“, geht es mir durch den Kopf. Jetzt wohnen Frau Kollmann und ihre alte Tante schon seit über vierzig Jahren im selben Haus. Anscheinend mögen die beiden sich nicht besonders. „Ja, hoffentlich werden wir nicht mal so, wenn wir alt sind. Bin ich froh, dass Du gehalten hast. „Ist doch selbstverständlich.“ „Wie geht’s denn Deiner Mutter, die hat doch mit Deinen zwei Oma’s auch soviel Arbeit?“ „Ja, die sind beide auch schon weit über achtzig und ...“ Ich bin ganz dankbar, dass Frau Kollmann mich nie ausreden lässt. So muß ich auch nichts erzählen. „Ja, ja, in dem Alter werden sie komisch und jetzt fängt unsere Verwandschaft auch noch an, komisch zu werden. Die streiten sich schon um das Erbe der Tante und dabei lebt die doch noch. Die denken immer, wir wollen uns bevorteilen. Sollen die doch die Tante zu sich ins Haus holen; dann will ich mal sehen, ob die das immer noch meinen. Die wissen gar nicht, dass die Tante so anstrengend ist, die sehen sie ja auch nur zwei- oder dreimal im Monat. Und wenn die zu Besuch sind, hört die plötzlich alles. Die müssen nicht schreien. Aber ich bin dann wieder die Böse; dabei braucht die doch nur zu machen, was man ihr sagt. Dann muss ich auch nicht schreien. Weißt Du, das Haus gehört uns ja nicht ganz, die Hälfte gehört immer noch der Tante. Und dieses Jahr mussten wir alle Rohrleitungen neu einziehen, weil die alten so verkalkt waren. Das haben alles wir bezahlt – und das ist ja nicht billig, die ganzen alten Leitungen herauszureissen und neue zu legen. Ganz abgesehen von der vielen Arbeit. Mein Mann hat ja fast alles selbst gemacht. Wir wollten dann von der Tante nur die Bestätigung haben, dass wir die Leitungen bezahlt haben. Das ist beileibe nicht zuviel verlangt. Nicht dass da wieder jemand auf die Idee kommt, das bei der Erbschaft nicht zu berücksichtigen. Und unsere Verwandschaft hat gleich zur Tante gesagt, dass sie auf keinen Fall etwas unterschreiben soll, ganz egal, was man ihr vorlegen würde. Als ob wir unsere Verwandschaft oder die Tante hinters Licht führen wollten. Achja, mit einem alten Haus und alten Leuten hat man eben nichts wie Arbeit. Meine Tochter, die Petra, wollte mich eigentlich auf den Bahnhof mitnehmen. Jetzt muss die aber gerade heute später anfangen zu arbeiten. Deshalb bin ich so froh, dass Du angehalten hast. Denk’ mal ich hätte eine halbe Stunde warten müssen. Ich sag´s ja immer, so wird das nichts mehr mit den öffentlichen Verkehersmittel, wenn die nur jede halbe Stunde fahren. Und unfreundlich sind die auch immer. Letztens bin ich im Bus ganz vorne beim Fahrer gesessen. Der hat mir immer nur ganz knapp geantwortet. Der war bestimmt noch müde und deshalb so brummig. Und so übermüdet lassen die den fahren. Kein Wunder passieren immer wieder Unfälle mit den Bussen. Nicht nur dass die Fahrer müde sind – nein, die müssen immer noch was trinken.“ Ich vermute, alle Busfahrer sind verpennte Alkoholiker. Busfahrer – ein Beruf am Rande der Gesellschaft. „Frau Kollmann, ich denke nicht, dass alle Busfahrer ...” „ Aber sehr viele, sehr viele. Das ist das gleiche mit den Piloten. Immer wieder liest man in der Zeitung, dass der Absturz auf menschliches Versagen zurückzuführen ist. Ja denkst Du, die schreiben, dass der Pilot sturzbetrunken war. Die Fluggesellschaften werden da schon ihre Mittel und Wege haben, sowas zu vertuschen. Deshalb bleib’ ich im Urlaub auch immer schön in Deutschland. Fliegen ist viel zu gefährlich.“ Eine Frauenstimme hallt in meinem Kopf: „Wir machen Sie nun mit den Sicherheitsmaßnahmen dieses Autos bekannt.... stellen Sie ihre Rückenlehne gerade..... und schalten Sie Ihre elektronischen Geräte bitte aus ..... wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt.“ „Ach da vorne ist ja schon der Bahnhof.“ Ob sie gleich, schießt es mir durch den Kopf, vorne beim Lokführer einsteigen wird? Ich halte und Sie hört noch immer nicht auf zu reden: „Also, Wiedersehen und nochmals vielen Dank. Ich bin ja so froh, dass Du angehalten hast.“ Ein weiterer Punkt, bei dem ich ganz anderer Meinung bin. „Grüß’ Deine Eltern.“ „Ja, mach’ ich –auf Wiedersehen.“ Die Autotüre fällt ins Schloss und ich kann erst einmal durchatmen. Ich bin froh, wieder alleine im Auto zu sitzen. Es gibt einfach Menschen, die ein sehr, sehr großes Mitteilungsbedürfnis haben. Wenn das Mitteilungsbedürfnis allerdings zur Geschwätzigkeit ausartet, wird jegliche Unterhaltung zur Qual.